Das Dorf und der Berg

Mike Ahrend

 

Die Menschen leben schon viele Generationen in Sklaverei. Die Ketten haben mit der Zeit ihre Form und Farbe verändert, mittlerweile sind sie eigentlich unsichtbar – funktionieren aber so gut wie nie zuvor. Viele haben sich daran gewöhnt, huldigen Geld und Konsum. Damit alle abgelenkt sind, wird in den Schulen das Nicht-Denken gelehrt. Es wird von morgens bis abends Propaganda über alle Kanäle gesendet, wie in einer Kirche gibt es Gläubige und Ungläubige. Die Gläubigen sperren wie gewünscht ihren Geist in einen Käfig, betäuben sich mit Arbeit, Alkohol und Fernsehen. Die Ungläubigen hingegen haben erkannt, dass Sklaverei eben nicht Freiheit bedeutet, wie die Figuren im Fernsehen immer behaupten, sondern eben genau Sklaverei ist.

Es gibt einige Dörfer dieser Ungläubigen. Dort versammeln sie sich und blicken auf den Berg. Der Berg ist ein Riese, mehrere tausend Meter hoch. Dort oben auf dem Gipfel wartet die Freiheit, da sind sich alle einig. Vom Dorf aus sieht man in der Mitte der Bergflanke, die es zu erklimmen gilt, eine nahezu senkrechte Platte. Über 1000 Meter hoch, kein Riss, kein Griff, kein Tritt – so scheint es aus der Ferne. Unbezwingbar. Zur Mittagszeit steht die Sonne so, dass das Sonnenlicht genau von der Platte auf das Dorf reflektiert wird. So werden alle jeden Tag immer wieder daran erinnert, dass Freiheit unerreichbar ist.

Jeden Tag versammeln sich die ungläubigen Selberdenker in der Telegram-Kapelle zur Diskussion. Das Thema ist der Berg. Immer wieder der Berg. Weil sie alle ja die Freiheit wollen. Viele sagen, es ist unmöglich, da ist ja die Platte, da kommt keiner hoch. Niemals. Man kann vielleicht um den Berg herum gehen, vielleicht gibt es da einen leichteren Weg. Die Nachrichten aus den anderen Dörfern, die viel mehr geteilt werden als eigene Gedanken, sprechen aber alle von der gleichen unüberwindbaren Stelle. Unmöglich. Das Dorf ist gespalten. Die einen sagen, man muss zum Ursprung gehen, die Geologie richtig begreifen, dann versteht man den Berg und wird auch hochkommen. Andere sagen, den Berg gibt es gar nicht, wir müssen „nur“ eine höhere Bewusstseinsebene erreichen, dann können wir das erkennen. Wieder andere sagen, der Berg ist illegal entstanden, die, die ihn da hin gestellt haben, hatten gar kein Recht dazu. Dann gibt es noch die, die sagen, der Berg ist selbst nach heutigem Recht gesetzwidrig, sie wollen ihn mit einer Klage vor Gericht hinweg fegen. Es wird diskutiert und diskutiert. Aus Wochen werden Monate und Jahre. Jede Gruppe hat mittlerweile ihre eigene Kirche gegründet, es gibt auch da Gläubige und Ungläubige. Zwar sind alle gemeinsam gegen den Berg, aber das stört den Berg überhaupt nicht.

Eine kleine Gruppe aus dem Dorf hat die fruchtlosen Diskussionen über verschiedene Ursachen satt. Und geht einfach los, ohne zu wissen was sie erwartet. Sie versprechen sich nur, soweit zu gehen wie möglich und sich immer gegenseitig zu helfen. Nach einem Fußmarsch, der weniger anstrengend war als erwartet, kommen sie am Fuß der Platte an. Aus der Nähe zeigen sich plötzlich Risse im Gestein, kleine Stufen und Löcher. Sie fangen an zu klettern. Mit den mitgebrachten Seilen und Leitern kommen sie tatsächlich ein Stück die Wand hoch. So hoch, dass es von allen Dörfern mit Blick auf den Berg gesehen wird. Jetzt, endlich, hören noch mehr Menschen auf zu diskutieren. Sie folgen der ersten Gruppe, haben noch mehr Haken, Seile und Leitern im Gepäck. Auch noch viele Ideen, wie man diese benutzt um besonders schwere Stellen zu meistern. Bald ist die halbe Wand überwunden. Es sind leider auch ein paar abgestürzt, aber nach einem Moment der Trauer geht es weiter. Steinschlag, schlechtes Wetter, all das bremst immer nur kurz. Sie klettern nicht für sich, sondern für die Zukunft ihrer Kinder. Während des Kletterns verändert sich auch das Gemeinschaftsgefühl und dann das Bewusstsein der Menschen. Man akzeptiert die Individualität des Einzelnen, fühlt sich aber mehr und mehr der Gemeinschaft zugehörig. Es werden mehr und mehr, die dazu kommen. Sie kommen höher und höher, immer näher zur Freiheit hin.

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